Ein Flüchtlingscamp – und tausend Vorstellungen, Gedanken und Bilder in meinem Kopf. Ein Flüchtlingscamp – und es ist erstmal ein Ort wie jeder andere, an dem Kinder Fußball spielen und schaukeln. Jedoch ist ein Zaun drum herum und am Eingang sagen wir der Polizei, wer wir sind. Ein Ort, an dem mich jeder begrüßt, der mir begegnet. Ein Ort voller Begegnungen, an dem aus »Viergewinnt« spielen eine Meisterschaft wird und Uno-Runden nicht langweilig werden. Vielleicht weil auf fünf Sprachen gleichzeitig gespielt wird und ich nebenher die Farben auf Arabisch lerne. Ein Ort, an dem immer jemand in der Nähe ist, egal ob groß oder klein, der mal kurz übersetzen kann. Ein Ort, an dem ich als Europäerin nicht alleine abwaschen gehen kann, ohne dass mir Hilfe angeboten wird. Ein Ort, an dem mir ein aufgeregtes Kind Blumen ins Haar flicht. Es redet von Thessaloniki, von Mama und von einem Baby. Dann kommt der Papa und zeigt mir ein Foto von dem Neugeborenen. Es ist der 11. Mai 2019, der Geburtstag von Seinebs kleinem Bruder. Es ist ein Ort, an dem die Kinder zum Frühstück wabbelige Schokocroissants und zuckrigen Orangensaft bekommen. Hier ist es normal, dass einige Kinder taub sind und ich gewöhne mich an Menschen mit vier Fingern oder mit nur einem Arm. Es ist ein Ort, an dem ich Freunde finde. Aber das geht eigentlich nicht, denn sie bekommen heute gesagt, dass sie morgen umziehen dürfen – oder müssen. In ein richtiges Haus. Das ist gut, aber langweilig. Und ich habe keine Ahnung, wo sich diese Menschen in Zukunft befinden werden, denn das wissen sie selber nicht. Viele wollen nach Deutschland. Kannst du mir das deutsche Alphabet sagen? A, B, C … Ein Chor von Menschen spricht mir nach. Strahlende Gesichter und Dankbarkeit, die mir Kraft geben. Ein anderer möchte nach Spanien, denn »ich liebe diese Sprache einfach« –»Si, yo tamién«. Gemeinsam hören wir spanische Musik. Ein Ort, an dem mir im Vorbeigehen ein Blumenkranz geschenkt wird. Ein Sonnenuntergang hinter den Bergen und vor mir ein Feld aus Klatschmohn und Margeriten. Ein Kind rennt durch das Bild und pflückt ein paar Blumen. Und mitten hindurch zieht sich ein Zaun. Graue Stacheldrahtrollen. Ich weiß nicht, was der hier zu suchen hat. Vielleicht ist er ein Überbleibsel des Militärflughafens, der hier einmal war.
Jetzt ist hier ein Ort, an dem ich lerne, wie die Drachenläufer Afghanistans ihre Drachen basteln. Sie schweben hoch über dem Camp. Ich lerne syrische Tänze und ein paar Wörter Kurdisch und Persisch. Es ist ein Ort, von dem ich wahrscheinlich nur die schönen Seiten sehe. Ich habe keine Ahnung von dem Leben in den Containern. Eine Familie mit vier, fünf, sechs Kindern in einem Raum. Keine Ahnung von Schlägereien oder Vergewaltigungen, davon wird mir nur erzählt. Ja, es wird oft geklaut. Aber wenn ich keinen Spiegel hätte, würde ich mich auch über eine Spiegelscherbe freuen. Und wenn man jeden Spiegel aus jeder Dusche oder Toilette in drei bis fünf Teile bricht, dann ist bestimmt bald für alle ein Stückchen dabei. Und ja, Kinder streiten sich mal. Zwei werfen plötzlich mit Steinen. Die Eltern sind aufgebracht. Das eine Kind ist gestern mit einem Messer verletzt worden. Es zeigt mir die kleine Kruste am Halsansatz. Viele von den Menschen hier haben so viel Gewalt erlebt und gesehen. Und ich höre von Geschichten, die ich mir nicht vorstellen kann, denn die gleichen Menschen lerne ich hier voller Lebensfreude kennen. Ein Ort voller Begegnungen, an dem ich lerne, dass alle Menschen genauso gleich, wie unterschiedlich sind. Ein Ort voller Menschen, die ich nicht verlassen möchte. Ein Flüchtlingscamp – ein Ort, den ich nicht verlassen möchte, weil ich hier nicht leben muss.
polikastro (greec) // mai 2019 // nike